Herzensfreunde (1876-1886)

Nach dieser dramatischen Wendung im Schicksal der "Grenzboten" gibt es in der Briefsammlung im Nachlass Julian Schmidts eine Lücke von sechs Jahren. Doch der nächste erhaltene Brief Freytags vom 13.9.1876 zeigt, dass er aus einem laufenden Austausch verfasst wurde, die Briefe im Berliner Nachlass also nicht vollständig erhalten sind: "Mein lieber Freund, danke Ihnen von Herzen für Ihren Gruß. Es war diesmal eine ernste Mahnung, obwohl die Niederlage nicht unerwartet kam u. auch nicht lange währte. Die Lungen versprechen, wenn sie fortan gut befeuchtet werden, noch einige Zeit zu dienen, wie lange? Am nächsten schönen Tage will ich nach Siebleben, ich war gerade im Aufbruch dorthin, als es mich niederwarf..." Der Brief endet mit den Worten: "Halten Sie sich stramm und grimmig, mein Herzensschmidt, grüßen Sie Ihr liebes Gemahl. Gutbleiben Ihrem treuen Freytag." 73

Eine neue Nähe: Herzensschmidt. In diesem Wort äußert sich starke Zuneigung. 1876 - im Jahr zuvor hatte Freytag seine Frau verloren. Spielt darauf der Ausdruck an, dass die Niederlage, die Krankheit, nicht unerwartet kam, weil Freytag lange Monate zuvor gelitten hatte? War im Zusammenhang mit dem Tod der Emilie Freytag die Beziehung zwischen beiden Männern enger geworden? Leisteten die Schmidts tröstenden Beistand? Jedenfalls überrascht der Ausdruck Herzensschmidt, signalisiert er doch eine größere Nähe als die Bezeichnung Freund. 

Fast dreißig Jahre kennen sich Schmidt und Freytag nun schon, sie sind inzwischen ältere Herren geworden, für die die Gesundheit ein wichtiges Thema darstellt. "Lieber Schmidt, Ihr Brief traf mich hier, wohin mich die Doctors wieder spediert haben, damit ich dem kalten Winter in Leipzig aus dem Wege gehe." So beginnt zwei Jahre später ein Brief aus Wiesbaden. "Bis December war ich in Siebleben, von da noch einmal in Schlesien." Freytag, mittlerweile 62 Jahre alt, hat seinen Sommeraufenthalt in Siebleben deutlich ausgedehnt. Der Besuch in Schlesien - führte er ihn vielleicht an Orte seiner Kindheit und Jugend? Seit 1858, als sein Bruder Reinhold überraschend starb, war Gustav Freytag der letzte Lebende seiner Familie. "Es geht mir nicht grade schlecht, in Stunden stiller Größe treibe ich die alte Schreiberei. Mich wundert zuweilen, dass ich alt werde, und ich kann nicht sagen, dass es mir besonders wohltut, wenn ich einmal als würdiger Veteran behandelt werde. Doch wohne ich seit meiner letzten Krankheit auf dieser alten Erde... ohne contractliche Sicherheit u. kann, wenn ich einmal zu sehr randaliere, sofort exmittiert werden." 74 Damit endet das erste Drittel des dreiseitigen Briefes. Die Gesundheitsfrage steht am Anfang, von sofortiger Exmittierung ist die Rede: Freytag fühlt die Nähe des Todes; die schriftstellerische Arbeit, alte Schreiberei, geht auch nicht mehr selbstverständlich von der Hand.

Es folgt eine Seite über die anstehende Schillerpreis-Verleihung. 75 Dann schließt der Brief: "Lebe ich, so komme ich in diesem Jahr nach Berlin. Nicht gerade wegen der Preisverteilung, wohl aber, um alte Freunde wiederzusehen. Vor andern meinen lieben Schmidt, einen guten u. sicheren Freund, an den ich oft denke. Liebes Herz, grüßen Sie Ihr Gemahl von einem ihrer treusten Verehrer und bleiben Sie gut Ihrem getreuen Freytag." 76

Ein emotionaler Schluss: Todesnähe (lebe ich noch) und Freundschaft (das Wiedersehen mit alten Freunden ist jetzt wichtiger als die Schillerpreisverleihung. Menschenliebe: hohe Wertschätzung Julian Schmidts (liebes Herz), eine Steigerung im Vergleich zum Herzensschmidt.

In einem weiteren Brief (vom Mai 1878) geht es wieder um den Schillerpreis. Dann in einem Satz auf der zweiten Seite wieder die (in diesem Kontext unerwartete) vertraute Anrede: "Es kommt aber, liebes Herz, wie die Dinge liegen, viel weniger darauf an, wen Ihr prämiert als dass Ihr überhaupt einem den Preis gebt und nicht wieder auf den Einfall kommt, dem guten alten Kaiser seine Medaille in die Tasche zurückzustecken." Mitten in einem Satz, in dem es ansonsten sachlich um die Preisverleihung geht, ragt diese vertraute Anrede heraus. Wenige Zeilen weiter am linken Rand findet sich die handschriftliche Ergänzung "dies nur für Sie, lieber alter Schmidt." Freytag entschuldigt sich dafür, dass er sich nicht um die für den Schillerpreis in Frage kommenden Werke gekümmert habe, weil (dies nur für Sie, lieber alter Schmidt) "ich in der letzten Zeit anderweitig bedrängt gewesen bin. Mein ältester Neffe Gustav, der fröhlich und frech aufgeschossen war, hat schon vor seinem Assessorexamen Sorge gemacht. Seitdem ist eine Gehirnkrankheit ausgebrochen und ich habe ihn gestern in eine Heilanstalt befördert. Das hat mich sehr zerzaust, denn meine Widerstandskraft gegen diese Art Schicksalstücke ist doch durch Früheres klein geworden." 77 Mehr wird nicht erklärt. Julian Schmidt weiß Bescheid, was diese Art Schicksalstücke bedeutet, was sich hinter dem Früheren verbirgt.

Wir blicken kurz zurück:

Schwere Jahre lagen hinter Freytag, Jahre, in denen - davon darf man ausgehen - Julian Schmidt (und wohl auch "sein Gemahl") Mitwissende seines Schicksals waren. Das Elend mit der Erkrankung der Ehefrau wird bereits für das Jahr 1866 bezeugt. In dieses Jahr fielen etliche Besuche Julius von Eckardts, der zu diesem Zeitpunkt fester Mitarbeiter bei den "Grenzboten" geworden war, im Hause Freytags. Dort begegnete Eckardt auch Freytags Gattin Emilie. Die ehemalige Gräfin von Dhyrn stellte keine positive Erscheinung dar: „die Frau Hofrätin… war eine alte, kränklich und verfallen aussehende Dame von vernachlässigtem Äußern und unsicherer Haltung, deren Erscheinung zu dem jugendlich kräftigen Wesen des Gemahls in auffälligem Gegensatz stand. Das schwere Gehirnleiden, das die letzten Lebensjahre der unglücklichen Frau verdüsterte, und das von Freytag mit außerordentlicher Geduld und Freundlichkeit mitgetragen wurde, war bereits damals im Anzuge und konnte vor den Bekannten des Hauses nur noch mühsam verdeckt werden.“ 78 Für Freytags strenge Zurückhaltung in privaten Dingen und die Abschirmung seines Privatlebens habe der Umstand der Erkrankung der Ehefrau die Hauptursache gebildet. 79

Um 1870 hatte sich die Krankheit von Gustavs Freytags Ehefrau weiter verstärkt. Julius von Eckardt berichtete in seinen Lebenserinnerungen von einem Empfang in Freytags Haus kurz bevor er die „Grenzboten“ verließ, um nach Hamburg überzusiedeln: Ich „nahm die Einladung zu einer kleinen Gesellschaft an, die Freytag… veranstaltete. Die Erinnerung an dieselbe gehört zu den peinlichsten, die ich von gesellschaftlichen Veranstaltungen überhaupt habe. Frau Freytags Gehirnleiden war während der letzten Jahre so sichtlich vorgeschritten, dass sie den gesamten Abend unter ihren Gästen mit blödem Lächeln dasaß, ohne zur Erfüllung der Pflichten der Hausfrau auch nur Miene zu machen. Die Lasten des Empfanges und der Bewirtung lagen ausschließlich auf Freytag, der die Plätze verteilen, die Aufstellung der Tafel besorgen und zugleich den Herrn und die Frau des (überdies engen und unbequemen) Hauses spielen musste, - eine Mühewaltung, der er sich mit höchster Geduld unterzog, von der seine Freunde indessen wussten, dass sie dem feinfühligen, an gute Formen gewöhnten Manne außerordentlich sauer ankam… Ich sehe Freytag noch vor mir, wie er mit Hilfe eines ungeschickten Lohndieners zwei Tische zusammenzufügen suchte, während einer mit Salomon Hirzel geführten Unterhaltung immer wieder durch Fragen nach Gläsern und Tellern unterbrochen wurde und alle Mühe hatte, sich der Gesellschaft auch nur so weit zu widmen, wie die Rücksicht auf die anwesenden Damen gebot. Alle Beteiligten atmeten auf, als des grausamen Spiels genug war und man um elf Uhr nach den Hüten greifen konnte.“ 80 Lange, seelisch belastende Jahre für Freytag. Die Verhältnisse des Jahres 1870 sind bereits schwierig. Noch 5 Jahre sollte sich das Leiden der Ehefrau hinziehen.

Das ist das Frühere, das Freytag in seinem Brief an Schmidt meint, wenn er von dem Gehirnleiden seines Neffen Gustav schreibt... Doch Freytag löst sich nach diesem persönlichen "Intermezzo" von seinen Erinnerungen ("Doch noch einmal zu unserem Geschäft.") und geht nochmals ausführlich über fast zwei Seiten auf für die Schillerpreisverleihung relevante Aspekte ein. 81

Doch die Nähe, ja, man kann sagen: die Anhänglichkeit an Julian Schmidt wird immer offensichtlicher. Wieder ein langer Brief aus dem Jahr 1878, datiert vom 19. September. Freytag ist immer noch in Siebleben. "Arge Bedrängnis" mit "Druckerverpflichtungen sowie eine ihn in diesen Tagen fordernde Familienangelegenheit (geht es noch immer um den Neffen?) halten ihn zurück nach Berlin zur Schillerpreisverleihung zu kommen. Es folgen mehr als drei Seiten Ausführungen zu ebendiesem bevorstehenden Ereignis. Und dann der Schluss des Briefes, gewaltig, vergleicht man ihn mit den Grußformeln früherer Jahre: "Ich grüße Sie , liebe Sie, segne Sie, Ihrem lieben Gemahl treue Huldigungen Ihres Freytags." 82 Die physische Begegnung in Berlin ist nicht möglich - Freytag sucht seelische Nähe, kämpft wohl noch bis zuletzt, ob er die Berlinreise schafft. Noch einen Tag vor der Preisverleihung, 4 Tage nach dem Absagebrief vom 19.9., gehen nochmals einige Zeilen an den Freund: "Mein lieber Freund. Eine Reise, die ich in Familiensorgen zu machen hatte, hat meine Genesungskraft so in Anspruch genommen, dass ich morgen nicht kommen kann. Es tut mir am meisten leid wegen des Mittags bei Ihnen u. Ihrem lieben Gemahl ." 83

Nach dem Tod seiner Gattin Emilie (13.10.1875) ging Gustav Freytag im folgenden Jahr ein enges Verhältnis mit seiner Hauswirtschaftsgehilfin Marie Kunigunde Dietrich ein. Marie war 29 Jahre alt, Freytag war 30 Jahre älter. Zwei Söhne, Willibald (geboren am 16.8.1876 in Heddernheim bei Frankfurt) und Waldemar (geboren im Herbst 1877 in Wiesbaden), gingen aus dieser Verbindung hervor. In Siebleben heiratete Freytag am 22.2.1879 Marie Kunigunde Dietrich. 84

Doch auch seine zweite Ehefrau war kränklich; sie verfiel zunehmend einem nervösen Leiden, welches einige Jahre später ihre dauernde Unterbringung in einer Nervenklinik nötig machte. Auch für die Zeit der zweiten Ehe Freytags galt der Grundsatz der strengen Abschirmung des Privatlebens: „Die eigentümlichen Umstände“, welche die zweite Eheschließung begleiteten, führten dazu, „dass er sich noch enger als früher abschloss und dass das elegante Haus, welches er zu Anfang der siebziger Jahre in Wiesbaden erwarb, nur in seltenen Ausnahmefällen geöffnet wurde. Freytags zweite Frau haben nur einzelne seiner nächsten Freunde (meines Wissens nur Prof. Ludwig und Dr. Wachsmuth) zu Gesicht bekommen; als ich ihn im Jahre 1880 besuchte, zeigte er mir sein Haus und die kleine Familie, die ich mir zugelegt habe mit dem Hinzufügen, dass die Mutter derselben leidend sei.“ 85

Gustav Freytag hatte nach seinem 60. Lebensjahr mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und suchte häufig das wärmere Wiesbaden auf, um seinen Nieskrampf sowie die Atembeschwerden zu kurieren, worunter er im Alter litt. Sein erster Besuch in Wiesbaden datiert aus dem Jahr 1876. Mit seiner Familie wohnte er einige Zeit im Wiesbadener Hotel „Zur Rose“. In die Zeit der Geburten seiner Söhne fiel auch der Tod seines langjährigen Freundes und Verlegers, des 12 Jahre älteren Salomon Hirzel, am 8. Februar 1877 - ein weiterer schwerer Schlag.

Im folgenden Jahr verlegte Freytag seinen Winterwohnsitz nach Wiesbaden; kurze einsame Sommeraufenthalte in Siebleben brachten etwas Erholung. Seit 1881 nahm Freytag seinen Dauerwohnsitz in Wiesbaden. Er bezog eine im spätklassizistischen Stil 1868 erbaute Villa.

Julian Schmidt wurde umgehend per Postkarte am 11. August die neue Adresse mitgeteilt. "Lieber Freund! Die Adresse ist Wiesbaden, Hainerweg 12. Ich schreibe in Gedanken fast täglich Briefe an Sie. Gegenwärtig stecke ich noch im Umzuge aus einer hiesigen Wohnung in die andere. Sobald ich festhafte, müssen Sie sich mehr Schriftliches gefallen lassen... In Treue, mit herzlichem Gruß an die treue Doktorin, Ihr alter treuer F." 86 Treue, Alterstreue, über Jahrzehnte gewachsen. In Gedanken verbunden. Zwei alte Herren im Einverständnis. 


Ausklang (1886)

Im Jahr 1886 starb Julian Schmidt im Alter von 67 Jahren. Wie mag Gustav Freytag diese Nachricht verarbeitet haben? Einen persönlich gehaltenen Nachruf auf seinen jahrelangen Freund und Weggefährten hat er nicht verfasst. In den "Preußischen Jahrbüchern" wurde Freytags Grenzboten-Kapitel aus seinen "Lebenserinnerungen" als Beitrag seines Andenkens an Julian Schmidt veröffentlicht.

Freytag wendet sich zurück zu den Anfängen dieser Lebensfreundschaft und - er wählt ein Kapitel aus seiner "autozensierten" Quelle. Nach dem, was wir in der Einleitung dieses Aufsatzes gesagt haben, darf man annehmen, dass Freytag diese Textform wählte, um seinen Schmerz nicht öffentlich zu machen. Der Tod seines "Herzensschmidt" wird ihm sehr zu Herzen gegangen sein.

Man darf aufgrund der engen persönlichen Bindungen zum Ehepaar Schmidt annehmen, dass Freytag der Witwe, Elise Schmidt, geschrieben haben wird. Diese Korrespondenz zu finden, bleibt späteren Bemühungen überlassen, die sich der Erforschung von Gustav Freytags Biographie widmen. Gustav Freytag mit seiner dritten Ehefrau Anna Strakosch (Marmorstandbild im Garten in Siebleben) - eigenes Foto, 2009 -

 

 

Autor dieses Beitrages: Norbert Otto

 

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