Getrennte Wege (1861-1863)

Die Trennung nach 13 Jahren gemeinsamer Arbeit bei den „Grenzboten“ im Jahr 1861 schildert Freytag in seinen Lebenserinnerungen in einer Art, aus der hervorgeht, dass Schmidts Abschied von Leipzig ohne Differenzen oder Verletzungen vollzogen wurde. Julian Schmidts Weggang wird dem Leser mit privaten und sachlichen Gründen erklärt. Auch hier ist der freundschaftliche Duktus der Zeilen Freytags beachtenswert: „Unterdes hatte Schmidt auch sein eigenes Leben redigiert, er hatte sich eine liebenswerte Gattin aus einem niederdeutschen Pfarrhause geworben, sie wurde die Vertraute seiner Gedanken, das beste Glück seines ganzen späteren Lebens. Vergnügt richtete er sich den eigenen Haushalt ein und verlebte von da an meiner Seite einige friedliche Jahre, freilich in doppelt angestrengter Tätigkeit. Die erste Ausgabe seiner Literaturgeschichte war erschienen, sein Ruf als Kritiker festgestellt; auch gesellschaftlich hatte er sich in Leipzig eingelebt, die früheren Tischgenossen Jahn und Mommsen waren fortgezogen, aber Heinrich von Treitschke, damals in blühender Jugend, wurde den Grenzboten ein lieber Gefährte, Freude und Stolz des Kreises, und Karl Mathy kam als Direktor der Kreditanstalt nach Leipzig und wurde ein hochgeschätzter Mitarbeiter. Seitdem gab es wohltuenden Familienverkehr und täglich anregendes Männergespräch, zu dem sich am runden Tisch eine Anzahl gescheiter und tüchtiger Leipziger mit den Grenzboten zusammenfand.

Julian Schmidt hatte der Zeitschrift dreizehn Jahre angehört, als ihm 1861 von Berlin aus der Antrag gestellt wurde, dort unter sehr günstigen Bedingungen die Leitung einer neuen, unabhängigen Zeitung zu übernehmen. Er erhielt dadurch die Aussicht auf eine größere Wirksamkeit und auf festere Stützen seines äußeren Lebens. Als er sich entschloss, dem Ruf Folge zu leisten, da durften seine alten Freunde zwar unsicher sein, ob das Zeitungswesen ihm auf die Dauer gedeihen könne, aber dass er selbst in dem literarischen Treiben der großen Stadt sich ehrenvoll behaupten werde, das war uns allen zweifellos. Die neue Zeitung dauerte nicht, Schmidt aber gewann in der Hauptstadt eine neue Heimat, die ihm lieb wurde. Der kleine Haushalt, in dem er mit der geliebten Frau waltete, wurde eine Stätte, an welcher sich viele der besten und vornehmsten Geister der großen Stadt an dem Frieden, der seelenvollen Heiterkeit und den klugen Gedanken eines alten Vorkämpfers der deutschen Journalistik erfreuten. Denn durch sein ganzes Leben trug er in sich den Adel einer guten und kräftigen Menschennatur, Wahrhaftigkeit und Lauterkeit der Gesinnung, die Unschuld einer Kinderseele bei gereiftem Urteil und einem hochgebildeten Geiste, als ein reiner und guter Mann ohne Falsch, warmherzig, treu seinen Freunden. Es ist nach seinem Tode 1886 dem älteren Genossen beschieden, hier von seinen Verdiensten um die Grenzboten zu erzählen“. 27
Das ist die rückblickende, geglättete Version jener Jahre. Alles greift (fast harmonisch) ineinander: Julian Schmidts Heirat, seine neue Aufgabe in Berlin, das Auftauchen Mathys...

Ein etwas anders Bild ergibt sich, wenn man Gustav Freytags Briefe an Salomon Hirzel während der Zeit des Wechsels Julian Schmidts nach Berlin liest, in denen die Verlobung und Verehelichung des Freundes thematisiert werden. Der Loslösungsprozess verlief durchaus nicht so konfliktfrei wie es Freytag im Altersrückblick in seinen Lebenserinnerungen darstellte.

Rückblende: Im Jahr 1855 gab es offenbar Gerüchte über eine Verlobung Julian Schmidts. Gustav Freytags Verleger und Freund Salomon Hirzel in Leipzig hatte dies Freytag wohl in einem Brief mitgeteilt. Diese Nachricht löste bei Freytag einige Verwunderung aus: „Von Julian Schmidts Verlobung weiß ich keine Silbe, u. glaubs auch nicht, es wäre zu märchenhaft.“ 28 Offenbar rechnete Freytag damit, dass sich zwischen Salomon Hirzels Tochter Ottilie und Julian Schmidt ein näheres Verhältnis ergebe. Es wurde wohl auch darauf hingewirkt, dass sich vielleicht etwas anbahne, denn Freytag schrieb im Zusammenhang mit einem bevorstehenden Besuch Schmidts in Siebleben im Sommer 1856 an Hirzel: „Wenn vielleicht Frl. Ottilie ein Interesse hätte, mit ihm zusammen einzutreffen, so ließe sich das ja wohl einrichten.“ 29

Gustav Freytag auf Brautschau für seinen mittlerweile 38-jährigen Freund und Junggesellen? Es sieht so aus. Aber das, was sich zwischen der Pfarrerstochter Elise Fehsenfeld aus Groß Lengden (in der Nähe Göttingens) und Julian Schmidt über Monate entwickelt hatte, war offenbar auch Gustav Freytag verborgen geblieben - denn bereits am 9. Oktober 1856, nur etwa vier Monate nach Freytags Brief an Hirzel, fand die Eheschließung statt! Welche Hoffnungen sich an eine Verbindung zwischen Schmidt und Ottilie Hirzel geknüpft hatten, wird in einem Brief Freytags nach der Verlobung Schmidts mit Elise Fehsenfeld deutlich. Gegenüber Hirzel äußerte er sich: „Schade! Ich hätte es gern gesehen, wenn Frl. Ottilie – doch das ist eine Sache voll Zartgefühl und wird billig eigener Betrachtung eines möglichen Schwiegervaters überlassen.“ 30 Daraus ist ersichtlich, dass die Vorstellungen über eine mögliche Verbindung Schmidts mit Ottilie Hirzel auch auf Seiten von Vater Salomon Hirzel schon konkrete Formen angenommen haben müssen! Zumindest war in diese Richtung gedacht worden. 31

Letztlich aber wurde durch die Hochzeitsvorgeschichte die Freundschaft zwischen Freytag und Schmidt nicht auf Dauer ernsthaft belastet.
Die Eheschließung zwischen Elise Fehsenfeld und Julian Schmidt fand am 9. Oktober 1856 in Groß Lengden statt. Am 7. Oktober verfasste Gustav Freytag, der sich in Leipzig aufhielt und unabkömmlich war, einen langen Brief an seinen jahrelangen Weggefährten, der in einem launig-humorvollen Stil gehalten ist. Hier einige Passagen aus dem Schreiben des Gratulanten Freytag, der Schmidt den Trubel des Hochzeitstages und seine Folgen ausmalt:

"Mein lieber, alter Schmidt!
Dieser Gruß kommt Ihnen möglicherweise am Hochzeitsmorgen, an dem Sie mit kräftiger Verwunderung bemerken, dass Sie Mittelpunkt einer dramatischen Action geworden sind, welche bei allem Golde, was davor und dahinter ist, doch an sich betrachtet, schwierig, lästig und rührend genannt werden muss." Freytag prophezeit seinem Freund ein unaufhörliches Händeschütteln, "man wird zuletzt ein Bündel, welches von einem Arm in den anderen geworfen wird, ein Object für die ehrwürdigen Scherze alter Herren, man wird angepredigt, angesungen" und letztlich in einen "Zustand der Willenlosigkeit" versetzt, in welchem man dann gar "bekränzt und geküsst" wird. "Das wird Ihnen alles passieren, alter Schmidt, und zum letzten Schluss wird gar geflennt. Zu dem und zu anderm nehmen Sie meinen herzlichsten Glückwunsch. Ich selbst kann nicht kommen, denn ich bin hier in einem nicht beneidenswerten Zustand der Unentbehrlichkeit, aber ich denke oft und viel an Sie und Ihre Zukunft und mit ganzer Seele an das Glück Ihrer Gegenwart. Wie gönne ich Ihnen das. Sie haben auch ein schweres Jahr durchgemacht und Ihr Himmel hing Ihnen gewiss oft finster über dem Kopf,32 was man ihrem schweigsamen Gemüte... anmerkte." Freytag fährt fort, dass nun aber eine milde Hand sein "tyrannisches Gemüt" glätten werde und ein "freundlicher Geruch von milder Anmut" werde über ihn ausgegossen: "Gott, was werden Sie sich ändern, Schmidt!" Freytag geht auf einige Gewohnheiten seines Freundes ein: "Keine zerstauchten Taschentücher einstecken und hübsch auf rauchbare Cigarren halten" und für Spaziergänge solle sich Julian Schmidt an ein "Battisthemd mit Busenkrause und Spitzen" gewöhnen. Dann wendet sich Freytag der jungen Gattin Elise zu: "Dem guten Genius Ihres Lebens, welcher solche mächtigen Revolutionen in Ihnen hervorbringen soll, bitte ich mich und meine Frau herzlichst zu empfehlen. Wir freuen uns sehr darauf, sie hier kennen zu lernen und ihr den schweren Übergang in ein neues Leben so viel zu erleichtern als wir vermögen." Der letzte Satz bezieht sich auf die problematische Leipziger Gesellschaft, vor der Elise Fehsenfeld schon vor der Hochzeit gewarnt wurde und der sie selbst auch bereits etwas skeptisch entgegen sah.

Als Hochzeitsgeschenk schickte das Ehepaar Freytag eine Decke nach Groß Lengden, auf welche Schmidt, als Symbol für die freundschaftliche Beziehung zu Gustav Freytag die "Stühle seines häuslichen Glücks" stellen solle. Die Schlusssätze des Briefes lauten: "Aber ich sehe Sie nebst Ihrer Braut sitzen, leibhaftig, wie eine Turteltaube, sogar die große Brille hat ein schalkhaftes und liebevolles Aussehen. Seien Sie lustig, lieber Freund, empfehlen Sie mich angelegentlich Herrn Pastor und den Damen Ihres Hauses und behalten Sie lieb Ihren getreuen Freytag." 33

Dennoch: in den letzten Monaten vor Julian Schmidts Übersiedlung in die preußische Metropole äußerte sich Gustav Freytag mit einigem Unmut über seinen Freund.

In der zweiten Jahreshälfte 1861 - bis zu Schmidts Weggang sind es also nur noch wenige Monate - beklagte Freytag in einem Brief an Salomon Hirzel vom 26. August die zunehmende geistige „Verwüstung“ Schmidts anhand von dessen soeben erschienenem Werk Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland von Leibniz bis auf Lessings Tod 1681-1781: „Unterdes ist das erste Heft von Schmidts Neuerer Literaturgeschichte erschienen, mir 3fach interessant, weil es dieselbe Zeit behandelt, mit welcher ich mich herumgeschlagen habe. Nun kann ich meine flüchtige Arbeit durchaus nicht neben seine eingehende stellen, aber aus dem Wenigen, was ich bis jetzt von seinem Buch habe lesen können, sehe ich doch, dass die Verwüstung in ihm fortschreitet. Es sind wieder brillante Stellen darin, aber so vieles Flüchtige und Saloppe, und so eine nachlässige, zuweilen rohe Sprache, dass das Buch doch einen trüben Eindruck zu machen droht. Das nur unter uns.
Ich selbst bin dadurch und durch anderes innerlich tief verstimmt, und das ist der Hauptgrund, dass … ich Ihnen nicht geschrieben habe. Es ist doch eine traurige Erfahrung, die ich mache, dass zwei Verhältnisse zu andern Menschen, die ich gewissermaßen mit meinem Leben verbunden, mir so wenig Probe halten. Wie mit Schmidt auf der einen, geht es mit dem Herzog auf der andern Seite.“  34

Innerlich tiefe Verstimmung. Menschen, die Freytag mit seinem Leben verbunden hatte, haben nicht "Probe" gehalten. Nach Jahren des Miteinander bleiben seelische Verwundungen zurück. Der Herzog und Julian Schmidt. Der eine residierte in Gotha, der andere schlug sich in Berlin durch. Der "getreue Freytag" hielt Stand, in Leipzig, bei den "Grenzboten". Schmidts Briefe in dieser Zeit empfand Freytag als „Divertissement“ 35 (also als Vergnügen und Unterhaltung) – das äußerte er Hirzel gegenüber im Oktober 1861, als ihm bekannt war, dass Schmidt zum 1. Januar 1862 nun endgültig nach Berlin gehen werde. Schmidts Verabschiedung von Leipzig, die "Orgie", wollte sich Gustav Freytag nicht entgehen lassen. 36

Die Verlobung Julian Schmidts mit Luise Fehsenfeld und die sich daran anschließenden Ereignisse hatten also einen Schatten auf die Freundschaft geworfen. Zwar äußerte sich Freytag in seinen Lebenserinnerungen nicht kritisch über diese „Verlobungszeit“, doch in den Briefen an seinen Verlegerfreund Salomon Hirzel wurde doch eine gewisse Entfremdung zwischen ihm und Schmidt deutlich. So berichtete Freytag im Juli 1863 anlässlich eines Wiedersehens mit Julian Schmidt in Leipzig: „Ich fand Schmidten daselbst vor, es war ein kühles, verständiges Wiedersehen. Kitzing hielt eine große politische Sitzung bei Aeckerlein …, wobei Treitschke eine so stürmische u. feurige Rede hielt, dass der Kitzing in eine tapfere Begeisterung geriet u. der anwesende Schmidt in das allertiefste u. achtungsvollste Schweigen versank.“ 37 Empfand Freytag Genugtuung darüber, dass es Julian Schmidt die Sprache verschlug? Dass er gegenüber dem sprachgewaltigen Treitschke die Empfindung hatte: hier spricht ein Redegewandterer? Es würde zu der unterkühlten Begegnung passen, dass Freytag das achtungsvolle Schweigen Schmidts so interpretierte...

Neujahr 1862: Die räumliche Trennung Julian Schmidts von Gustav Freytag war also vollzogen. Schmidt suchte eine neue Aufgabe und es zog ihn nach Berlin, in die Metropole. In seinen Lebenserinnerungen äußerte sich Freytag über den Weggang seines Freundes: „Julian Schmidt hatte der Zeitschrift 38 dreizehn Jahre angehört, als ihm 1861 von Berlin der Antrag gestellt wurde, dort unter sehr günstigen Bedingungen die Leitung einer neuen, unabhängigen Zeitung zu übernehmen. 39 Er erhielt dadurch die Aussicht auf eine größere Wirksamkeit und auf festere Stützen seines äußeren Lebens. Als er sich entschloss, dem Ruf Folge zu leisten, da durften seine alten Freunde zwar unsicher sein, ob das Zeitungswesen ihm auf die Dauer gedeihen könne, aber dass er selbst in dem literarischen Treiben der großen Stadt sich ehrenvoll behaupten werde, das war uns Allen zweifellos.“ 40

 

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