Der Germanen-Enkel, welcher dergleichen behauptet, erwägt nicht, daß er damit seinen eigenen Vorfahren die schwere Schuld zuschiebt, einen unauslöschlichen Charakterfehler in das jüdische Wesen hineingepeinigt zu haben. Es ist allbekannt, daß die Juden durch mehr als tausend Jahre zwar als Nachkommen der Feinde und Verfolger des Heilands gehaßt und geringgeschätzt, von Ehre und gemeinem Recht ausgeschlossen waren, auf der andern Seite aber vor dem Untergang in der Masse des Volkes durch eine merkwürdige geschäftliche Bevorzugung bewahrt blieben und in einer ganz ungeheuerlichen Stellung dahinlebten.

Aus der römischen Welt war mit dem Christenthume das Verbot, Geld gegen Zinsen und Faustpfand zu leihen, in das deutsche Leben gekommen. Es war in einem geldarmen Lande das unsinnigste aller Gesetze. Dem Manne, welcher "Ehre" hatte, daß heißt dem Deutschen, waren nach kirchlicher und germanischer Anschauung diese Zinsgeschäfte als gottlos und ehrlos verboten, dem Juden, der ohne den Christengott und ohne Ehre lebte, waren sie erlaubt. Nun konnten aber Päpste und Bischöfe, Kaiser und Fürsten, Edle und Bürger das bare Geld durchaus nicht entbehren, und alle diese mußten wünschen, daß Unehrliche vorhanden wären, welche den christlichen Beschränkungen nicht unterworfen waren. Der Jude aber war, so meinte man, in dieser verwünschten Lage. Er lebte als ein Fremder nach gemeinem Recht rechtlos. Ungenügenden Schutz für Leben und Habe erhielt er nur durch die Gunst des Kaisers und eines mächtigen Herrn, und diese Gunst mußte er erkaufen. Jeder andere Erwerb durch Grundbesitz, Handwerk, ehrlichen Handel war ihm verwehrt, nur in beschränkter Zahl fand er mit seinen Glaubensgenossen Duldung und Wohnrecht in gesonderten Häusern. Waffen zu tragen war ihm verboten. Von den Christen mußte er sich durch die Kleidung und durch Abzeichen an der Tracht unterscheiden, und durch Demuth und Gefügigkeit oder durch Unempfindlichkeit gegen Beleidigungen zu schützen suchen. Dennoch wurde der Verachtete fast nothwendig ein reicher Mann, sein Vorrecht des Geldhandels und des Zinsgeschäftes sammelte unablässig das Werthmetall in seinen geheimen Truhen, denn das Geld war selten, die Geschäfte unsicher, der Zinsfuß hoch.

So lebte er halbverstohlen ein zweigetheiltes Dasein. Alle Wärme des Herzens, die Freude am Besitz, die Liebe zu den Seinen, das Feuer seiner leidenschaftlichen Natur, den Stolz auf sein Wissen und seine geheime Macht mußte er sorgfältig im Innern der verschlossenen Wohnung bergen vor feindseligen Blicken, und trotz aller Vorsicht durchbrach von Zeit zu Zeit der Haß des großen Haufens, die Gier der Begehrlichen die dünnen Schutzwände seines Daseins. Fast jede Aufregung der Massen äußerte sich verderblich gegen ihn und die Seinen. Oft war er wie der Schwamm, den sein Beschützer selbst auspreßte, wenn er ihn vollgesogen meinte. War es ein Wunder, daß sich die Spuren dieser fürchterlichen Einseitigkeit im Erwerbe, einer unablässigen Unsicherheit des Lebens tief in sein Wesen eindrückten? Während tausend Jahren durften die Juden nur durch einen Handel bestehen, der den Christen für unehrlich galt! Dreißig aufeinanderfolgende Geschlechter mußten durch Geldgeschenke und Bestechung sich die Möglichkeit des Lebens immer aufs neue erbetteln. Durch tausend Jahre lernten die Juden die geheimen Verlegenheiten und Gelüste anmaßender Christen kennen und verachten, in dieser ganzen Zeit mußten sie sich winden und krümmen, wenn der Stock gegen sie erhoben wurde oder ein roher Reitersmann auf ihren Bart spie. Alle Fehler und Schwächen, welche man jetzt als spezifisch jüdische Eigenschaft dem Volksthum der Juden zuschreiben möchte, werden durch den tausendjährigen Zwang, in dem der germanisch-christliche Staat des Mittelalters die Juden festhielt, so erklärlich, so selbstverständlich, daß es ein unnöthiges Bemühen ist, dieselben Eigenschaften als altjüdische auszurufen, die dem Volke seit der Urzeit anhalten. Bei dergleichen Schlußfolgen aus sehr ungenügendem Beweismaterial sollte man mehr Vorsicht und weniger Lieblosigkeit anwenden. In den spanischen Territorien wenigstens, wo die Juden neben den Mauren in besserer Stellung lebten, haben sie heldenhaften Muth nicht nur wie bei uns im Leiden erwiesen. Zu aller Zeit aber, auch unter dem ärgsten Drucke, bewährten sie da, wo ihr Geist und Wissen sich frei regen durfte, in den Naturwissenschaften, der Philosophie, Mathematik, Astronomie und Heilkunst eine fördernde Thätigkeit, für welche ihnen unsere Wissenschaft für alle Zeit zu größtem Danke verpflichtet sein wird.

In dieser Unfreiheit haben die Juden an allen großen Wandlungen des deutschen Lebens ihren Antheil gehabt. Im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert kam ihnen der Humanismus, das Eindringen des römischen Rechtes, der Aufschwung des nationalen Lebens zu Gute; der dreißigjährige Krieg aber, welcher zwei Drittel der deutschen Bevölkerung verzehrte und den Rest sehr arm machte, drückte auch die Juden wieder tief hinab. Zwar ihre Ausbreitung in den leeren Dorffluren und halb zerstörten Städten wurde leichter, und ihre Zahl wird erst seit dieser Zeit beträchtlicher, aber ihr Verkehr mit der verkommenen, verwilderten, armseligen Bevölkerung wurde für diese nachtheiliger, für sie selbst stärker an Versuchungen und die hundert Jahre vor 1740 sind wohl die Zeit, in welcher ihr geschäftliches Treiben auf deutschem Boden am fragwürdigsten war; nicht ganz ebenso in Oesterreich.

Wie die Juden sich aber in ihrer unzerstörbaren Volkskraft seit 150 Jahren gehoben und Schritt um Schritt bei jeder Steigerung der Bildung und Humanität mit der deutschen Nation enger verbunden haben, das ist einer der schönsten Erfolge, welche unsere Geschichte zu verzeichnen hat. In dieser Zeit wurden sie allmählich Verbündete, Freunde, Mitarbeiter auf jedem Gebiete unseres realen und idealen Lebens.

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