Wenn die Feder davon erzählt, ist es gering, wenn aber ein Mensch darin lebt, treibt es ihm den Strom des Blutes kräftig durch die Adern. (Band 1, Seite 105)

Cover: Die verlorene HandschriftZum Inhalt

Die „Helden“ dieser Geschichte sind der Herr Professor Felix Werner und der Herr Doktor Fritz Hahn, die auf der Suche nach einer verschollenen Handschrift des Tacitus sind. Einen Hinweis auf deren Verbleib hat der Professor in einem alten Bibliotheksverzeichnis für das nahe ehemalige Kloster Rossau gefunden. Die Verwicklungen beginnen, als der heutige Besitzer des Grundstücks seiner Tochter Ilse die Führung durch das Haus überläßt. Während der Professor zusehends nicht mehr so recht weiß, ob er wegen der Handschrift oder Ilse auf dem Gut ist bzw. dorthin zurückkehrt, gibt es da noch die Tochter Laura seines Hausherrn, des Herrn Hummel, der mit seinem Nachbarn, dem Vater des Herrn Doktor Fritz Hahn, aufs Heftigste verfeindet ist. Dann wird da auch noch ein Landesfürst eine gewisse dunkle Rolle spielen (es ist ja Mitte des 19. Jahrhunderts), von einem neidischen Kollegen ganz zu schweigen. Die Protagonisten sind also reichlich beschäftigt, bis sich alles fügen und das Rätsel der „verlorenen Handschrift“ endlich lösen wird.

 

 

Vorbemerkung


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Kommentar / Meine MeinungCover: Gesammelte Werke

Mit durchaus gemischten Gefühlen ging ich nach fünfzehn Jahren daran, dieses Buch wieder einmal zu lesen. Aber der Sorge, wie das Buch auf mich wirkt, ob die Erinnerung verklärt, hätte es nicht bedurft. Denn jetzt, da ich es beendet habe, steht so fest wie der Bielstein, auf dem das Gutshaus steht, dem Ilse entstammt: das ist mein Lieblingsbuch. Seit meiner Jugend bis heute. Und wohl auch bis ans Ende meiner Tage. Beruhigt kann ich die jetzt zum Lesen verwendeten Ausgaben ins Gustav Freytag Regal zurückstellen in dem sicheren Bewußtsein, daß ich sie von dort bald wieder zur erbaulichen Lektüre herausziehen werde.

In künftigen Zeiten wird, wie man hört, auf dem Erdball eitel Freude und Liebe sein. (Band 1, Seite 22) Nun, man hat offensichtlich falsch gehört, denn wenn man es genau nimmt, hat sich seit damals (der Roman spielt um 1850/1860) so viel nun auch wieder nicht geändert. Wenn man bei so mancher Schilderung der Marotten des Adels einfach ein paar Begriffe austauschte, würde es heute immer noch passen. Zähes Ringen um Sitzordnung und Protokoll etwa sind auch heute noch an der Tagesordnung.

Erstaunt hat mich des öfteren, wie kritisch teilweise der Adel beschrieben wird. Ich bin jetzt nicht so bewandert in den Zensurvorschriften jener Zeit (so es sie denn gab, wovon ich aber ausgehe), doch bei der einen oder anderen Stelle habe ich mich über die (aus damaliger Sicht) große Offenheit bzw. Kritik gewundert. (Z. B. im Kapitel 1 des Dritten Buches, Ilse und der Erbprinz.)

Immer wieder gibt es Stellen, an denen sich der Erzähler direkt an die Leser wendet, und des öfteren gibt es die eine oder andere humorvolle Szene; von einer solchen sei hier ein Beispiel gegeben. (ACHTUNG: Massiver Spoiler fürs Ende. Das ist so zwar recht bald absehbar, dennoch die Spoilerwarnung.) [ Herr Hummel läßt in der Zeitung folgende Anzeige veröffentlichen: Die Verlobung des Doktor Fritz Hahn mit meiner Tochter Laura und die heut morgen ins Werk gesetzte Entführung desselben aus seinem elterlichen Hause zeige ich ergebenst an. Hummel. Im Zusammenhang mit der Szene, in der dies auftaucht, mußte ich laut auflachen, als ich mir vor allem die Gesichter der beiden Mütter vorstellte, die dadurch erst von der Heirat ihrer Kinder erfahren haben. ]

Die Handlung selbst umfaßt mehrere Jahre und ist teilweise in einem nicht genannten deutschen Duodezfürstentum angesiedelt. Die Universitätsstadt des Professor Werner scheint jedoch nicht zum Herrschaftsgebiet des Fürsten zu gehören. Das wird genauer jedoch nicht ausgeführt, auf jeden Fall kann man ungehindert zwischen den Orten reisen. Ich meine wirklich reisen, nicht, wie heute im ICE ans Ziel rasen. Eisenbahn gab es im fraglichen Gebiet noch nicht, also war man auf Pferdekutschen - und auch auf seine eigenen Füße angewiesen. Überhaupt erhält man eine recht gute Vorstellung vom Leben damals. Nur sollte man im Hinterkopf behalten, daß Freytag hier kein Bild der Gesamtgesellschaft zeichnen wollte, sondern sich für diesen Roman die Welt der Gelehrten sowie (im Teil, der in der Residenz spielt) die der Fürsten beschränkt hat. Hinzu kommt das (gehobene) Bürgertum in Gestalt der Familien Hahn und Hummel. Dabei wird zwangsweise vieles ausgeblendet. Es ist ein Unterhaltungsroman, kein deprimierendes Drama, das alles Negative seiner Zeit aufzeigen soll.

Die Protagonisten sind nicht nur, weil ich das Buch zum x-ten Male gelesen habe, in meinem Kopf zum Leben erwacht. Vor meinem Auge lief förmlich ein Historienfilm ab. Ich habe die Menschen in ihren alten Kleidern und einfachen Wohnungen ohne Strom und Zentralheizung vor mir gesehen, wie sie die sich ihnen stellenden Aufgaben meistern mußten. Bis in den Nebenrollen hinein gut besetzt, wie etwa die Rollmaus oder der Magister Knips, den ich in seiner gerissenen Unterwürfigkeit mehr als einmal im Staub habe vor mir liegen sehen, dabei überlegend, wie er sein Gegenüber übervorteilen kann und ich mich ihn in Gedanken ob seiner Bosheiten verwünschen hörte. Lediglich die Eltern des Doktor Hahn blieben etwas blaß. Man merkt, daß sich hier niemand in eine alte Zeit zurückversetzt hat, sondern jemand schrieb, der eben selbst in dieser Zeit, mit diesem Umständen gelebt hat.

Es blitzt bisweilen eine uns inzwischen ungewohnte und ferne Ethik und Moral auf, die der eine oder andere belächeln und einer lange vergangenen Zeit angehörig betrachten mag. Auch sei erwähnt, daß das Menschen- und Rollenverständnis nicht das des 21., sondern das der Mitte des 19. Jahrhunderts ist. Andererseits, vielleicht läuft heute deshalb so viel aus dem Ruder, eben weil es keine solche standhafte Moral, keinen solchen Ehrbegriff mehr gibt, der den Menschen als Leitschnur dienen kann. Vielleicht ginge es uns heutigen doch besser, hätte man nicht alles auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen und manches, vielleicht in modifizierter Form, behalten.

Freytags Romane zählen mit zu den sog. „Professorenromanen“. Über die Definition bei Wikipedia mag man geteilter Meinung sein, zumal wir Texte von damals nur mit heutigem Verständnis und Hintergrundwissen lesen können, nicht mit den Augen und den Voraussetzungen der Zeitgenossen. Andeuten will ich damit, daß des öfteren in inneren Monologen oder in Dialogen (teilweise weitläufige) Erklärungen von Entwicklungen und Sachverhalten eingeschlossen sind. Ich selbst hatte damit wie auch dem bisweilen etwas veralteten Stil keinerlei Probleme; half es mir doch im Gegenteil, mich vollends in die Welt der Protagonisten zu versetzen, wie ich schon seit geraumer Zeit nicht mehr so intensiv in eine Buchwelt abgetaucht bin.

Als ich jetzt, nachdem ich das Leseende immer wieder hinausgezögert, um länger dort verweilen zu können, den Roman schließlich doch beendet habe, schloß ich ihn ruhig, zufrieden und in heiterer Stimmung wie schon lange kein Buch mehr. Die Rätsel sind gelöst, die Protagonisten haben ihre Bestimmung gefunden, die Familienverhältnisse sind geklärt, der Mond mag wieder ruhig über dem Stadtwald scheinen. Ich weiß nur eines: daß es nicht wieder fünfzehn Jahre dauern wird, bis ich mich erneut auf die Suche begebe. Die Suche nach der verlorenen Handschrift.

 

Kurzfassung

Verwicklungen in der Gelehrten- wie der Gefühlswelt der Protagonisten ergeben so manches Knäuel, das aufgedröselt werden mußt, bevor es zu einem guten Ende kommen kann. In (für uns heutige) bisweilen etwas altertümlicher Sprache, die das Flair einer untergegangenen Epoche lebendig werden läßt, eine Geschichte aus der Welt der Gelehrten und der Fürsten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mein absolutes Lieblingsbuch.

 

Anmerkung

Möglicherweise hat sich Gustav Freytag durch seinerzeit reale Vorgänge zur Figur des Magister Knips inspirieren lassen. Siehe diese Originaltexte:

- Der falsche Uranias
- Die Handschriften von Arborea

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Anmerkung:
Alle Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe innerhalb der Gesammelten Werke, 2. Auflage 1896-1898, Bände 6 und 7